Samstag, 8. Oktober 2016

Bruchstücke eines Nachmittags

„Ich schaffte es bis zu einem Spiegel und besah mir das Gesicht. Es kam mir bekannt vor.“ (Raymond Chandler: Playback)
Die Viertelstunde in der Schlange am Kassenhäuschen. Fünf Mark für ein buntes Rechteck aus dickem rauem Papier.
Der riesige Bau. Du gehst über Treppen und Gänge. Und dann zum ersten Mal der überwältigende Anblick des Stadions. Das Spielfeld und fünfunddreißigtausend Menschen. Der Rasen leuchtet unwirklich im grellen Scheinwerferlicht.
Du stehst in der Menge. Leute mit langer Mähne und Schnurrbart, über der Lederjacke ihre Kutte, eine Jeans-Jacke ohne Ärmel, die mit aufgenähten Vereinswappen übersäht ist. Familienväter mit streng zurückgekämmtem Haar und offenem Hemd, die ihren Sohn dabei haben.
Das Spiel. Schreien, Stöhnen oder angespannte Stille der Menge. Aufgeregte Diskussionen mit deinem Nachbarn, den du nie zuvor gesehen hast. Aber euch verbindet das ewige Band unverbrüchlicher Treue zur eigenen Mannschaft.

Zwischendurch eine Lautsprecherdurchsage: Herr Sowieso aus Hastenichgesehen, herzlichen Glückwunsch, Sie sind Vater geworden. Alle klatschen und grinsen dabei.
In der Pause auf der Toilette. Der Gestank, die weißen Kacheln, die verschimmelten Ecken. Schulter an Schulter stehen die Männer und fummeln sich ihren blassen Pimmel aus dem Hosenschlitz. Wir schiffen wie das Vieh in den Ställen. Hier wäscht sich niemand die Hände.
Dann fällt das Tor. Unbeschreiblicher Lärm. Alle schreien und springen hoch, reißen die Arme in den Himmel. Ein unwirklicher Moment. Das Tor fällt und es ist schon vorbei. Keine Wiederholung, keine Zeitlupe.
Du brüllst, aber du hörst es nicht. Du bist aufgesprungen, ohne es zu merken. Wann hast du zuletzt geschrien, so laut du konntest? Du siehst auf die gegenüberliegende Seite des Stadions, wo die Fans der anderen Mannschaft so starr und stumm sind, das es fast unnatürlich wirkt. Keine Fahne bewegt sich dort drüben, die Verlierer halten ihre Totenwache.
Du denkst an damals, als du mit Opa noch in der Küche gesessen hast. Das riesige alte Radio. Samstagnachmittag. Die Konferenz. Die aufgedrehten Reporter, deren Stimme immer schneller und lauter wurde, je näher der Ball dem Tor kam.
Nach dem Abpfiff bist du so müde und ausgepumpt, als hättest du selbst auf dem Platz gestanden. Entweder triumphierende Blicke oder gesenkte Häupter. Einzelne abgeklärte Kommentare zu den Leistungen von Spielern und Schiedsrichtern. Beschwörung der Vergangenheit, Hoffnung und Trotz, bis sich die Menge wieder in der Dunkelheit zerstreut hat.
David Bowie – It’s No Game (Part 1) + (Part 2).
https://www.youtube.com/watch?v=F_XoOe51QpM
https://www.youtube.com/watch?v=GHhwYEV155Y
Oder, passend zum Thema, etwas Männermusik: https://www.youtube.com/watch?v=EcIp-dNLFYM

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